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Bildertrunken von Wilhelm Schmid
 
 
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Reini Rühlins Kunst der Umkehr

Leben in der Fülle der Bilder: Davon zeugt das Œuvre von Reini Rühlin. Der exotische Dschungel des Lebens, reich an möglichen Erfahrungen, findet sich darin, und zwar für ihn selbst, den Künstler, wie auch für uns, die Betrachter: Für ihn selbst, da jedes Bild Bestandteil seines gelebten Lebens ist, aus seinen Erfahrungen und Phantasien herauswächst und von seiner Deutung der Existenz zeugt. Aber auch für uns, da jedes Bild einen bestimmten Eindruck in uns hinterlässt, der zum Bestandteil unseres Lebens und unserer eigenen Deutung der Existenz wird. Exerzitien der Existenz sind diese Bilder in jedem Fall, denn das Leben in seiner ganzen Fülle ist in ihnen erfahrbar und kann mit ihrer Hilfe neu orientiert und transformiert werden. Das ist das Unverzichtbare jeder Kunst: Interpretationen des Lebens und Möglichkeiten zur Formung und Transformation des Lebens zu offerieren, sowohl für den Produzenten selbst wie auch für den Rezipienten. So bereichert die Kunst das Leben und wird zur Lebenskunst.

Diese Wirkung bringt die Kunst auch dann mit sich, wenn sie nur um ihrer selbst willen betrieben wird, umso mehr jedoch, je vielfältiger sie ausdeutbar ist. Die Fülle der Bilder Rühlins freilich kommt der Deutungslust von selbst entgegen, und das rührt daher, dass diese Bilder reichhaltig dekorierte Schaufenster des Lebens sind, die sich dem Blick darbieten und an denen man sich kaum sattsehen kann. Die Assoziation der Schaufenster liegt nahe - Schaufenster waren für Rühlin selbst tatsächlich die ersten Bilder seines Lebens; so fasziniert war er von ihnen, dass er den Weg zum gelernten Dekorateur durchlief und als Maler seine Bilder weiterhin gerne wie Schaufenster arrangiert, oder beispielsweise ein wirkliches Schaufenster voller Handschuhe zum Anlass nimmt, Schaufensterpuppen wie Menschen darzustellen, die sich in einem Wald von Händen verlieren (Handschuhe, 1984). Wir aber sind die Flaneure, die zufällig des Wegs daherkommen und beim beiläufigen Blick auf all diese Bilder von einer inszenierten Idee, einer auffällig gekleideten Gestalt oder von einem Kuriositätenkabinett angezogen werden, eben von all dem, was es in einem Schaufenster zu sehen gibt. Und oft bemerken wir erst beim zweiten Hinsehen den Witz, die Ironie, die Doppelbödigkeit dessen, was sich da vor unseren Augen auftut.

Der Hang zur Ironie

Vor allem die Ironie ist Rühlins Markenzeichen, und das trifft sich gut, denn Ironie ist die Ressource, von der wir nicht genug fürs Leben haben können - nur leider ist sie, wie alle wertvollen Ressourcen, knapp, sodass man gut daran tut, sogleich mit beiden Händen zu schöpfen, wenn man einmal eine Quelle entdeckt hat. Die Ironie weiss Rühlin in Bilder zu fassen, die auf den ersten Blick harmlos, allzu harmlos aussehen, bevor sie ihren Hintersinn offenbaren. Da ist beispielsweise ein kindlich schüchternes, romantisches Paar sich zugetan und doch getrennt, sodass es nicht recht eins werden kann (Liebespaar, 1971), eine Erinnerung an den antiken Mythos des Aristophanes, der davon erzählt, dass die Menschen von Zeus entzweigeschnitten wurden, um sie von ihrer Anmaßung, Göttern gleich sein zu wollen, ein für allemal zu heilen; dass er ihnen aus Mitleid jedoch die Geschlechtlichkeit gewährte, damit sie wenigstens durch gelegentliche Kopulation noch ihres ursprünglichen Einsseins teilhaftig werden können. Rühlin braucht, mit hintergründigem Grinsen, nur ein Akkordeon, um die beiden Hälften in ihrer eigentümlich rhythmischen Bewegung - zueinander, auseinander, immer schön im Wechsel - zu demonstrieren.

Man muss die Dinge nur ein wenig hin- und herwenden, um einen überraschenden, ironischen Doppelsinn in ihnen zu entdecken: Erster Aspekt einer Kunst der Umkehr. Ironie pflegt Rühlin jedoch nicht nur im Hinblick auf die existentiellen Dinge des Lebens, er giesst sie vielmehr auch über die Ansprüche der Kunst selbst, etwa ihren immer wieder mal anzutreffenden Ehrgeiz, die Dinge naturalistisch, also wahrheitsgetreu abzubilden. Da kommt ihm der allseits beliebte Hirsch, Gegenstand zahlloser Wohnzimmergemälde "nach der Natur", gerade recht: Das ironische Spiel beschert dem Hirsch gestrickte Füße (Nach der Natur gestrickt, 1974), wohl nicht nur eine Ironisierung der Kunsttätigkeit selbst, sondern auch noch der Wohnzimmerpantoffel desjenigen, der seinem Kunstbedürfnis mit dem röhrenden Hirsch über dem heimischen Sofa schon volle Befriedigung verschafft.

Die Persiflage

Einmal glauben wir, vor Monets Seerosenteich zu stehen - und stutzen dann, denn ein Schwan fährt über diesen Teich, einer, der besonders gut schwimmen kann, denn er ist aus Styropor, seinen langen Hals verdankt er einem Schirmständer, und ein Schwanz aus künstlichen Tulpen ragt hinten hervor (Am Weiher, 1990). Ist es nicht dasselbe Tier, das einige Jahre lang den kleinen Weiher in Rühlins Garten belebte? Und da glänzen auch schon Froschaugen aus der trüben Brühe hervor, Froschaugen in Monets kunstgeschichtlich wertvollem Seerosenteich; eine Elektroinstallation sorgt für die leuchtenden Punkte: Die Idylle wird der Lächerlichkeit preisgegeben. Es ist übrigens keineswegs das einzige Bild, bei dem Rühlin die Oberfläche buchstäblich durchbricht und ein Objekt direkt ins Bild setzt, wonach es ihn offenkundig drängt, denn er ist keineswegs nur Maler, sondern auch Gestalter von Objekten wie etwa dem erwähnten Schwan, und so montiert er beispielsweise ein gefundenes Aststück an den unteren Bildrand und malt dessen Fortsetzung und Verzweigung ins Blaue des Himmels hinein; ein kleines Modellmädchen balanciert darauf, nichtsahnend, worauf sie sich einlässt (Alle Wege führen ins Nichts, 1989).

Dies ist der zweite Aspekt einer Kunst der Umkehr: Die Dinge mit einem kleinen Eingriff in ihr Gegenteil zu verkehren, sie zu persiflieren. Im Bereich der Malerei hat Georg Baselitz eine gewisse Berühmtheit dafür erlangt, dies buchstäblich zu praktizieren: Er kehrt seine Bilder nach dem Malakt einfach um und lässt sie kopfüber hängen. Rühlin aber kehrt noch die Umkehrung um und persifliert damit den Kollegen: Ein Handtuch mit leidenschaftlichem Frauenantlitz befestigt er an der Wäscheleine und lässt so das Untere oben sein, aber mit dieser Umkehrung verkehrt sich zugleich die Aussage des Bildes in ihr Gegenteil - unvermittelt verändert sich die Mimik des leidenschaftlichen Stöhnens und wird zum verzweifelten Schrei (Help, 1983), Persiflage nicht nur einer Malerei, sondern zugleich der Leidenschaftsgläubigkeit einer Epoche, die ihre Kehrseite, das Leiden, nicht mehr wahrhaben will. Persifliert werden aber nicht nur Maler, sondern auch Philosophen, denen heimtückisch ein Motorrad zur Verfügung gestellt wird (Motorrad für Philosophen, 1984), eines freilich, das nicht brauchbar ist - seine reale Erscheinungsform ist mit einer Plastikplane überdeckt, die die Denker ewig rätseln lassen wird, was denn das Phänomen darunter, das "Zugrundeliegende", sei; die zugehörige Geschwindigkeit können sie sich selbst dazudenken.

Herrlich auch die Persiflage auf die weibliche Grazie, die die gesamte Kunstgeschichte hindurch von Malern und Plastikern inszeniert und als Inszenierung verehrt worden ist. Rühlin entlarvt dieses Spiel durch Overkill und schichtet ein paar Holzblöcke zum weiblichen Körper auf, beiderseits flankiert von Versuchen, die Vollzähligkeit der drei Grazien der Kunstgeschichte herzustellen (Drei weibliche Körper, 1990). Oder die Persiflierung der kunst- wie kirchengeschichtlich bedeutsamen Pietà, die im ausgehenden 20. Jahrhundert am ehesten von Barbiepuppen darzustellen ist, umgeben von Plastikblumen, um die Werte zu symbolisieren, die dafür gesorgt haben, dass die von Michelangelo für die Ewigkeit in Marmor gehauene Figurengruppe der christlichen Pietà ihren Ernst und ihre Tragik in der Komödie der modernen Welt vollständig verloren hat (Pietà, 1988). Doch trotz aller scheinbaren Bitterkeit ist der geistreiche Spott, die Persiflage, nie böse gemeint - dieser Maler liebt, wie so viele seiner Kollegen, alle Erscheinungsformen, auch die Verfallsformen des Lebens und der Kunst; physisch und psychisch ist er ausserstande, über irgendetwas wirklich böse zu sein.

Aufmerksame Beobachtung

Wie zartfühlend, wie einfühlsam er vielmehr ist, stellt er schon vom Beginn seiner künstlerischen Tätigkeit an unter Beweis, als er etwa, nur die Umrisse der Gestalten und die Aussagekraft ihrer Hände im Blick, die Verlegenheit eines jungen Paares charakterisiert, das nichts mit der Erfahrung anzufangen weiss, dass auch der Alltag irgendwie bewältigt werden muss, der so ganz andere Anforderungen stellt in krasser Abhebung gegen die ekstatische Auflösung der Zeit in Zärtlichkeit (Junge Liebe, 1968). Aufmerksamer Phänomenologe zu sein, dieser Aufgabe des Malers bleibt Rühlin treu, und dies markiert den dritten Aspekt seiner Kunst der Umkehr: Genau hinzusehen, um die Dinge von Grund auf wahrzunehmen und ihr Innerstes nach aussen zu kehren, die charakteristischen Züge einer Erscheinung ausfindig zu machen und ihre verborgene Wahrheit dem Betracher sichtbar zu machen.

Malen ist ja nicht, wie manche gerne glauben, der geniale Akt eines Schöpfersubjekts, sondern die mühsame und tägliche Ausübung eines Handwerks, die einige Fähigkeiten des Subjekts besonders nachhaltig trainiert, etwa die Fähigkeit der Aufmerksamkeit, die etwas, sei es ein äusseres Phänomen oder eine innere Vorstellung, genau ins Auge fasst. Dieser Aufmerksamkeit verdanken wir etwa die Bekanntschaft mit dem Fest der Vogelscheuchen (Fête des épouvantails, 1988), das in der Tat in einem Dorf in der Nähe von Rühlins Wohnort Villars-le-Grand bei Avenches noch immer gefeiert wird, so farbenfroh und skurril, wie ein Malerauge sich das nur wünschen kann. Im Bild wird die Rumpelkammer der Schreckgespenster erst recht lebendig und erhebt Anspruch auf ihre eigene Welt. Aufgrund seiner gesteigerten Aufmerksamkeit ist dem Maler darüber hinaus der Röntgenblick eigen, für den die so selbstverständlich erscheinende menschliche Realität zur durchsichtigen, brüchigen Angelegenheit wird: Der Mensch als ephemere Erscheinung, flüchtig wie ein Windhauch. Dinge, Bauwerke wie die Kirchenfeldbrücke in Bern, die 1900 schon Albert Anker zu einem Gemälde inspirierte, von gusseiserner Beständigkeit und mit dem Berner Bär geschmückt, dominieren und durchqueren die Einzelexistenz, und zwar so sehr, dass durch die Frau auf der Brücke, die so fein zufrieden in sich hineinlächelt, das Brückengeländer hindurchschimmert, vor dem sie steht (Kirchenfeldbrücke, 1991).

Dieser Künstler, der, wie er gelegentlich von sich sagt, in der Nacht schläft und tagsüber träumt, nimmt die Wirklichkeit viel wacher wahr als andere und sensibilisiert damit auch die Wahrnehmungsfähigkeit des Betrachters. Es ist eine Sensibilität, die den Weg des Individuums und der Gesellschaft überallhin begleitet, sensibel dafür, welche Grundstrukturen und Erfahrungen die menschliche Realität ausmachen. In dieser Sensibilisierung besteht, wenn man überhaupt dem Artisten eine bestimmte Funktion zuweisen will, seine Unentbehrlichkeit für den Einzelnen und die Gesellschaft. Die Gesellschaft jedenfalls lebt von der Aufmerksamkeit und Wahrnehmungsfähigkeit, auch von dem Witz, der Findigkeit und zuweilen der Obsession der künstlerischen Individuen, die sie mit Leben erfüllen; sie ginge zugrunde ohne sie, denn sie schlösse sich ein in ihre jeweilige Realität.

Überraschende Perspektiven

Nie haben wir es jedoch mit "der" Realität zu tun, denn was wir für Realität halten, ist immer nur eine Frage der jeweiligen Perspektive, und immer gibt es auch andere Perspektiven, auf die aufmerksam zu machen die Arbeit des Künstlers ist. Exemplarisch wird dies vorgeführt anhand des angeblich schiefen Turms von Pisa: Eine kleine Veränderung der Perspektive genügt, und der Turm steht gerade, nur das Bild, das wir von ihm haben, ist ein wenig schief (Das schiefe Bild aus Pisa, 1983). Dann wiederum sehen wir ein Bild vor uns, das, je nach Perspektive, eine sich auf der glatten Wasseroberfläche spiegelnde Ente - oder auch, hochkant genommen, einen Kuhschädel darstellen könnte (Schädelente, 1991). Was der gewöhnlichen Wahrnehmung als selbstverständlich erscheint, offenbart plötzlich einen verblüffend anderen Aspekt. Alles wird für die Kunst zum Stoff, lässt sich drehen und wenden und neu kombinieren, bis der scheinbar simplen Angelegenheit eine neue Perspektive abgewonnen wird.

Überraschende Eigenschaften treten an den Dingen plötzlich hervor, auf die Rühlin uns aufmerksam macht; die vertrauten, aber unbeachteten Dinge offerieren unter seiner Hand einen anderen Sinn, zeigen eine andere Möglichkeit ihres Gebrauchs auf, und darin besteht der vierte Aspekt einer Kunst der Umkehr, nämlich die Gewissheit zu unterlaufen, die Realität sei etwas Feststehendes. Die Umkehrung der gewohnten Perspektive eröffnet einen anderen Blick auf die Dinge, und hier wird am deutlichsten, wie sehr die Kunst eine Lebenskunst ist, denn indem sie eine andere Dimension der Wirklichkeit zum Vorschein bringt, eröffnet die Kunst zugleich die Möglichkeit eines anderen Lebens und bewahrt uns davor, in der Aussichtslosigkeit zu ersticken.

Schönheit mit Widerhaken

Manchmal sind Rühlins Bilder auch einfach nur schön, etwa wenn er mit unvergleichlich wirkungsvoller Technik Wälder porträtiert (Wald, 1976; Herbstwald, 1977), Wälder, die aus der Arbeit mit Tusche auftauchen, romantische Menschenträume von "Natur". Aber die Schönheit kann trügerisch sein: Drastisch führt Rühlin dies am idyllischen Sinnbild der Ruhe und des Friedens, dem Fischer, vor Augen, der unvermutet höchst explosive Gegenstände fängt und dessen Idylle selbst schon eine Bombe ist, die jeden Moment hochgehen kann (Der Fischer fischt bis dass die Bombe ihn erwischt, 1983). Irgendein Widerspruch, eine Gegenläufigkeit, etwas, das quersteht und die herkömmliche Ästhetik des Schönen in Frage stellt, gehört zu Rühlins Bildern - fünfter Aspekt seiner Kunst der Umkehr - wie zu allen avantgardistischen künstlerischen Arbeiten im 20. Jahrhundert. Der erste Eindruck verfängt sich noch in den verführerisch schönen, zuckersüßen Farben, die eine Landschaft wie aus einem Tourismusprospekt, Gestalten wie aus einem Modekatalog hinzaubern. Erst beim zweiten Hinsehen ist zu bemerken, dass etwas nicht stimmt: Mitten in den schönen Landschaften kommt es zu eigenartigen Begegnungen, zum Einbruch der modernen Zeit in die archaische, ländliche Idylle des Raums. Durch die reizvolle Wiesenlandschaft einer Ebene, vor dem Hintergrund der im Dunst liegenden Hügel und Bergkämme, prescht mit Karacho ein alternder Rennradfahrer dahin, mit verbissenem Gesicht und ohne einen Blick auf die landschaftliche Schönheit zu verschwenden, monadisch in sich verschlossen, ein Sinnbild der modernen Haltung, die vom absoluten Wert des menschlichen Subjekts überzeugt ist, dem eine äussere, im Raum sich erstreckende Umwelt gegenübersteht, die dem Menschen zu Diensten zu sein hat (Broye-Ebene, 1991). Das Subjekt, das das Resultat dieser Philosophie ist, unterzieht sich nicht mehr der Mühe der Wahrnehmung und des Nachdenkens; es hält sich fit für die Steigerung seines Subjektdaseins, das den völligen Mangel an Sensibilität für ökologische Zusammenhänge durch ein umso sportlicheres Verhältnis zum sozialen Aufstieg wettmacht.

Surrealistische Phantasie

Auf die Beschränktheiten der modernen Rationalität reagierte zu Beginn des 20. Jahrhunderts schon die surrealistische Bewegung.Wenn Rühlin ein ums anderemal zeigt, dass es sich mit der Realität nicht so einfach verhält, wie wir dachten, dass in ihr weit mehr zu sehen ist, als wir vermuteten, steht er dem Surrealismus sehr nahe. Die Vorstellung, dass die Welt weit umfassender ist als die uns bekannte, dass es viele Welten gibt und nicht nur die eine, die uns als die einzige erscheint, inhaliert er geradezu und macht sie sich zur Grundüberzeugung, sechster Aspekt seiner Kunst der Umkehr. Zahllose Welten (Welten und Weltall, 1980) werden symbolisiert von Kugeln, die wie Seifenblasen den Raum bevölkern; jederzeit könnten sie, berührte man sie unvorsichtig, zerspringen, und jede birgt in sich doch eine eigene Welt, eine Traumwelt von idyllischer Schönheit, die umso kleiner wird, je weiter man sich von ihr entfernt, und schliesslich im Nichts verschwindet, als hätte es sie nie gegeben.

Andere, skurrile Realitäten, die die sichtbare Realität überlagern, werden sichtbar, wenn etwa von der Zimmerdecke eine Brustspitze auf uns herabsieht (Wunschtraum, 1968): Träume eines Einsamen, diktiert von seinem Verlangen; eine Projektion aus dem inneren Vorstellungsvermögen heraus, die uns als gemaltes Objekt plötzlich im äusseren Raum wiederbegegnet. Nicht zufällig entstand dieses Bild 1968, im Jahr der Studentenbewegung also, die, ohne sich im Klaren darüber gewesen zu sein, viele ihrer Impulse dem Surrealismus verdankte. Die Freisetzung der Phantasie ("Die Phantasie an die Macht!"), die Suche nach dem wahren Leben ("Unter dem Pflaster liegt der Strand"), erst recht die Bestärkung der Fähigkeit zu träumen: Diese Motive weckten bei Rühlin, der seine Tätigkeit als freier Kunstmaler 1968 begann, die schlummernden kreativen Kräfte.

Erotische Symbolik

Auch mit seiner erotischen Ader steht Rühlin ganz in der Traditionslinie moderner Kunst, die in der Erotik das Wesen der Wirklichkeit, die Fülle des menschlichen Seins entdeckt hat. Insbesondere Romantiker, Surrealisten und Dadaisten taten sich darin hervor, mit Erotik das verengte Weltbild des Rationalismus und die allzu beschränkte Wirklichkeit des bürgerlichen Daseins zu sprengen, und Rühlin tut es ihnen gleich, indem er beispielsweise ein pralles, frisch glänzendes Weib, wiederum ein Spiel mit einem antiken Mythos, modern gebrochen, nämlich eine Leda mit dem Schwan, verführerisch in den Himmel malt, ironisch über ein Dorf aus Bauklötzchen triumphierend (Bauklotzigen 475 ü. M., 1988). Aufregend auch das Bild, das Flammen von roten Pinselstrichen um einen opulenten weiblichen Akt herum züngeln lässt (Junge Frau, 1991): Inszenierung des Blicks, der von diesem Körper in Flammen selbst entflammt wird und gleichwohl kühle Distanz bewahrt, eine Visualisierung des Verlangens, das, um Verlangen bleiben zu können, die Distanz aufrecht erhält.

Die Kunst der Erotik, Bestandteil einer Kunst, die zur Lebenskunst wird, ist der siebte Aspekt von Rühlins Kunst der Umkehr und zugleich eine Perversion im Wortsinne, nämlich eine Umkehrung und Neuorganisation des gewohnten, überkommenen Lebens durch die erotische Erfahrung. Die Erotik, die Kunst der Anspielung, des Spiels mit Attributen des Begehrens, der Inszenierung der Lust, hat es schwer in einer Zeit, die der Unverhülltheit und Direktheit des Sexes gerne allein den Vorzug gibt, aber die Zeit der Vorherrschaft dieser Einfallslosigkeit neigt sich mit dem 20. Jahrhundert dem Ende entgegen. Rühlin selbst konfrontiert die uralte, überkommene erotische Symbolik des Einhorns mit modernen Sexsymbolen: Das mit einem langen, spitzen Horn ausgestattete Fabeltier, das nur im Schoß einer Jungfrau Schlaf finden kann, ursprünglich gewiss kein Symbol für Keuschheit, erlebt seine Übersetzung in die Sprache der Moderne und kehrt zurück als Nippesfigur, aufgebaut vor einem "Wald", dessen Bäume aus aufgeschichteten, überdimensionierten Eiskugeln emporwachsen, in denen manche einen "Frauentraum" sehen (Einhorngruppe auf Waldlichtung, 1986).

Die Menschen der Moderne haben den Traum von der Verschmelzung mit dem Anderen bis hin zur Identität geträumt, und mussten gerade aus diesem Grund die Verzweiflung über die Unmöglichkeit des Einsseins als Lebensform erfahren. Über den naiven romantischen Glauben, durch das bloße Einswerden mit dem begehrten Anderen könnte das Heil der Welt realisiert werden, ist dieser Maler jedoch hinaus. Er schickt sich in das Schicksal, dass, abgesehen von einigen glücklichen Augenblicken, das Objekt seines Verlangens nur in aufreizender Pose vor seiner Nase tanzt, er es aber nicht zu fassen bekommt (Maler und Modell, 1990). Der Maler, vielfach verkantet, hundertfach in sich gebrochen von seinen Erfahrungen, Sinnbild des gelebten Lebens, wird zwar alt darüber, empfindet jedoch offenkundig keine Bitterkeit und verachtet nicht etwa den Tanz des Fleisches, nur weil er nicht mehr ohne Unterlass getanzt werden kann. Leben ist eben nicht nur ein glücklicher Augenblick im Dunkel der Nacht, sondern ebenso die vom Tageslicht grell beleuchtete Banalität, in der nur noch die Erinnerung an vergangene Lüste bleibt, etwa in Form zweier Nachthemden, deren Faltenwürfe noch von dem Fleisch zeugen, das nicht mehr in ihnen steckt (Geflüster, 1991).

Keine Frage, dass auch hier die Ironie aus den Bildern rinnt, etwa wenn der alte Grieche Kandaules, einstmals König von Lydien, jetzt aber nur noch ein nacktes, in den modernen Zeiten verlorenes Standbild seiner selbst, seinem hinter dem Vorhang versteckten späteren Mörder, ganz wie es die aus zwei antiken Überlieferungen zusammengezogene Geschichte vorsieht, seine einmalig schöne Frau vorführt (Kandaules zeigt Gyges Lukrezia, 1989), die unter modernen Bedingungen freilich nur eine blau glänzende Gummipuppe ist, ein aufgeblasenes Objekt, auf das sich gleichwohl das Begehren richtet. Man hört schon, wie die Luft mit einem Knall daraus entweicht, sobald ein unkeuscher Akt vollzogen wird.

"Mauerblümchen"

Oft schwelgt Rühlin auch nur in seinen Bildern, exponiert sie ohne weiteren Hintersinn im Schaufenster seiner Kunst, ohne tiefere Bedeutung - Bilder, die nur für sich selbst existieren, aus schierer Lust am Malen, ein collagierter Rauschzustand ohne privilegierte Perspektive (Vielen Dank, Herr Apotheker, 1979), eine Explosion der Bilderflut, willkürlich an den Rändern abgeschnitten (Charivari, 1979), ein buntes Sammelsurium von Nippes (Musikfestwochen, 1986/87), farbenprächtige Faschingsmasken (Schneewittchen ist tot, 1991), aber auch dieser Bilder bedürfen wir, wollen wir Lebenskunst realisieren: Sie stehen für Dinge, Zeiten, die nur für sich selbst da sind, ohne weiteren Zweck und ohne bestimmten Sinn, um nur dem Spiel des Lebens und der Kunst zu frönen, Purzelbäume der Phantasie zu schlagen und die Gedanken an keiner Leine zu halten. Vielleicht kommt ganz von selbst ein Juwel dabei zum Vorschein, aber das bleibt dem Zufall überlassen, um nicht auch daraus noch ein Kalkül zu machen. Meist bleibt es bei Spielereien, und Rühlin liebt seine "Mauerblümchen", wie er sie nennt, die dabei entstehen und die keiner haben will, denn sie künden nicht von einem tieferen Sinn (Spannende Langeweile, 1990).

So macht der Künstler, auch der Künstler des Lebens, die Erfahrung, dass die Kunsttätigkeit die grösstmögliche Freiheit und Selbständigkeit vermittelt, dass Kunst also, ganz wie von selbst, Lebenskunst hervorbringt, denn Kunst hat nicht nur einen artifiziellen, sondern immer auch diesen existentiellen Aspekt; die ausgeübte Technik ist immer zugleich eine Technik des Lebens, und indem etwas, etwa eine Leinwand, gestaltet wird, gestaltet der Künstler sich und sein eigenes Leben. Beim Betrachter aber wiederholt sich dieser Vorgang, denn auch das Hinsehen und Wahrnehmen des Kunstwerks ist eine Kunst, die auf das rezeptive Subjekt zurückwirkt, das dadurch verändert und erweitert wird, befreit von einer zu großen Enge des Lebens, angeregt von Ideen, wie eine Praxis der Freiheit im eigenen Lebensvollzug aussehen könnte. Das ist ein Aspekt der Kunst, den unachtsam zurückzuweisen eine unvertretbare Verarmung des Lebens zur Folge haben würde.

Bildertrunken zu sein, ist jedenfalls nicht nur das Privileg des Künstlers, der diese Bilder malt, sondern ebenso der Gewinn des Betrachters, der diese Kunstwerke zum Bestandteil seines Lebens macht. Unerheblich, ob er über den Bildern verweilt, um ihre Anregungen tief in sich aufzunehmen, oder von Bild zu Bild zappt wie abends am Fernsehapparat, um nur blitzlichtartige Eindrücke mitzunehmen: Jedes Werk ist die Manifestation einer spielenden, probierenden, experimentierenden, erfinderischen Existenz, ein Ausdruck der Ästhetik der Existenz des Artisten selbst. Sich daran ein Beispiel zu nehmen, eine Ahnung von der Fülle des Lebens daraus zu schöpfen und sich bereichern zu lassen, bleibt demjenigen überlassen, der aus seinem eigenen Leben ein Kunstwerk macht.


PD Dr. phil. Wilhelm Schmid lebt in Berlin,
lehrt Philosophy as Privatdozent in Erfurt
und ist Gastdozent in Riga/Lettland sowie Tiflis/Georgien.
Wilhelm Schmid kann durch seine web seite  erreicht werden.